FAVORITEN
ÜBER JAKOB PALMER
Der junge Fotograf Jakob Palmer fiel mir das erste Mal während der Berlin Art Week 2020 auf. Beziehungsweise gar nicht so sehr er selbst, sondern seine Arbeiten. Seine Fotos sind komplett real fotografiert, sie sind in keiner Weise bearbeitet. Das mag noch nicht so verwunderlich klingen, auch wenn in unserer influencten, instagrammisierten Filterfotoschönerscheinwelt das pure Foto aus der Kamera wohl eher die Ausnahme ist.
Bemerkenswert ist es, da Jakob’s Fotos nicht wie Fotos aussehen. Ich habe mich bei vielen Arbeiten gefragt, wie er die wohl hinbekommen hat. Die Fotos zeigen keine Abbildung der Realität, sondern spielen mit unserer Wahrnehmung, mit unserem Willen alles verstehen, alles immer scharfstellen zu wollen. Das gelingt hier nicht, manche Motive verschwimmen wie lebendig vor unseren Augen. Sie lassen Raum für das eigene Erleben und ändern auf jeder Wand ihren Charakter.
Besonders stark sehen sie in grossen Formaten aus, auch die Diptychen und Triptychen sind einzigartig schön. Wie gut, dass mir Jakob wohlgesonnen ist, so konnte meine Lieblingsarbeit in einem grossen Format bei mir zuhause ihren Platz finden. Ich habe die Arbeit nicht als Wette auf die Zukunft gekauft, dennoch wünsche ich Jakob den verdienten Erfolg - er möge reich und berühmt werden!
https://jakobpalmer.de/
ÜBER BIRTH VON JONATHAN GLAZER
Der Film BIRTH (2004) ist eines der ganz wenigen Beispiele, wie ein fast zu schön ausgestatteter, exquisit gefilmter und stilistisch perfekter Film dennoch auf einzigartige Weise berühren kann. Nach Sexy Beast (2000) drehte JONATHAN GLAZER diese Mutmassung über das Mögliche. Es gibt einige magische Momente, sei es die Eröffnungssequenz, die Szene im Badezimmer - und vor allem der Opern-Besuch, bei dem die Kamera sich fast 2 Minuten auf Nicole Kidman’s Gesicht konzentriert - man kann in ihm lesen, ihre Gedanken, Gefühle, ihr Herz, ihre schwankende Seele spüren. Kino für die Ewigkeit. Und nie sah NICOLE KIDMAN besser aus. Haare ab, Botox weg - das würde auch heute noch den perfekten Rahmen für ihr immer ausserordentlich gutes Schauspiel geben. (Foto: New Line Cinema)
ÜBER CHARLY HÜBNER
CHARLY HÜBNER ist Deutschlands bester Schauspieler. Auch, weil er immer so tut, als wäre er gar nicht so gut. Er ist sich für nichts zu schade, von liebenswert-grenzdebil, über traurig-verloren, bis ausnahmslos-wütend ist alles dabei. Seine Physis ist stark, seine Psyche kennt jeden Zustand. Ich kenne Charly Hübner leider nicht persönlich, wir laufen immer gerne am Hamburger und Berliner Hauptbahnhof aneinander vorbei. Deswegen kann ich nur ahnen, wie er als Privatperson ist - vermutlich genauso vielschichtig, aber im Herzen ein im schönsten Sinn ganz einfacher Typ, mit dem ich gern mal ein Bier trinken würde. (Foto: David Maupilé)
ÜBER HAROLD AND MAUDE VON HAL ASHBY
Das ist schwierig. Harold and Maude (1971) ist alles für mich. Alles, was ein Film, eine Geschichte sein kann. Schon als Buch sehr gut, schafft der Film einen einzigartigen Transfer: er lässt uns spüren, was es bedeutet geliebt zu werden. Und was es bedeutet, nicht geliebt zu werden - oder es zumindest nicht vermittelt zu bekommen. Die Aussage ist universal: „Du bist gut, wie Du bist.“ Das Ringen um diese Anerkennung und das selbstannehmen ist in eine vordergründig schwarze Komödie gekleidet, aber in Wahrheit der schönste Liebesfilm aller Zeiten. Die Besetzung ist natürlich einmalig: RUTH GORDON als Maude, BUD CORT als Harold und VIVIAN PICKLES als Mutter sind ein nicht zu übertreffendes Ensemble. Selbst die Musik von CAT STEVENS stört nicht, das will ja was heissen. Der Film ist voller Wahrheit, Poesie, Spass, Lebensfreude, Trauer, Humor, Besinnlichkeit, Sensibilität, Schönheit, Leichtigkeit und Tiefe. Am Ende ist Harold er selbst und geht seinen Weg ins Leben. Was kann Liebe noch schöneres geben?
ÜBER CONSUMED VON PLASTIKMAN
CONSUMED (1998) von PLASTIKMAN zu hören, ist wie ein Trip. Auch süchtigmachend, aber legal und ohne schwerwiegende, dauerhafte Schäden davonzutragen. Man muss sich auch darauf einlassen, es ist kein Album zum Sonntagmorgen-Croissant. Je hochauflösender das Ausgangsmaterial und je besser die Stereoanlage ist, über die Sie das Album hören, desto besser. Tatsächlich stellt sich der Rausch am dringlichsten ein, wenn die grossen, schwebenden Flächen mit den pulsierenden, langsam die Athmosphäre vorwärtspumpenden Bässen, Kraft und Raum zur Entfaltung bekommen. Ich habe das Album am allerliebsten in einer noch leeren, frisch angemieteten Wohnung nachts gehört. Die Tracks sind bewusstseinserweiternd, die Gedanken werden mit davongetragen und zu Perspektiven geführt, die man sonst nicht einnehmen würde. Die Musik ist wie ein schwarzer Panther, der um Sie herum und mit Ihnen durch die Räume streift – seien es die Ihres Gehirns, oder die ganz realen, in denen Sie sich befinden. Elegant, fragend, konturiert und kraftvoll, schimmernd in Schattierungen von blauschwarz, hin und wieder auch diffus, unnachgiebig, suchend, begleitend, bedrohlich und letztendlich sehr viel Kraft schenkend. Kurz gesagt: anhören! Dieser Beipackzettel begleitet Sie dabei.
ÜBER PROF. DR. MATTHIAS PRINZ VON DAVID MAUPILÉ
Filme können ganze Geschichten erzählen. Ein einzelnes Foto, das eines Könners, sogar von einer ganzen Welt. Als ich DAVID MAUPILÉ’s Porträt von MATTHIAS PRINZ im stern sah, war ich tief beeindruckt. Es ist für mich dreifach bemerkenswert: zunächst ist es fotografisch eines der besten Porträts, das ich jemals gesehen habe. Zweitens zeigt es mir diesen aussergewöhnlichen Mann vor dem Hintergrund seiner Biografie mit aller Stärke, Würde, Ohnmacht, Wut, Kraft, Entschlossenheit, Bildung, Willensstärke, Zerbrechlichkeit, Hilflosigkeit, Optimismus, positiver Aufmüpfigkeit und starker Haltung. Drittens, vielleicht am eindringlichsten für mich, ist es ein motivierendes Mahnbild sein Leben nicht nur zu leben, sondern es zu schätzen, demütig zu sein und nie aufzuhören, das Beste aus jedem Tag zu machen – für sich und andere.
ÜBER DISINTEGRATION LOOPS VON WILLIAM BASINSKI
Ext. New York - Abend.
Eine statische Aufnahme der Skyline von Downtown Manhattan, gefilmt von einem Dach in Brooklyn. Das Woolworth Building hebt sich deutlich von anderen, weniger wahrnehmbaren Gebäuden, Büros und Wohnblöcken ab. Dicke Rauch- und Staubfahnen verdunkeln einen Großteil des Bildes auf der linken Seite. Auf der rechten Seite verschmelzen gelbe Lichtbänder mit dem Blau des oberen Himmels. Bei Einbruch der Dunkelheit wird die Stadtlandschaft darunter zunächst in Schatten getaucht, was diesem amerikanischen Tag eine Magritte-ähnliche Surrealität verleiht: es ist der 11. September 2001.
Desintegration Loop 1.1 (2001) wurde von dem Komponisten WILLIAM BASINSKI am 11. September gedreht, auf den Tag genau 37 Jahre, nachdem der Popkünstler ANDY WARHOL seinen eigenen berüchtigten Single-Shot-Film über ein nächtliches Wahrzeichen New Yorks gedreht hatte: Das Kaiserreich (1964).
Basinskis Werk wurde 2012 für die Aufnahme in das National September 11 Memorial Museum ausgewählt. THE DISINTEGRATION LOOPS, das Thema zahlreicher Dissertationen und anderer überschwänglicher Essays, beschwörender Liner Notes und philosophischer Reflexionen, wird von vielen vor allem als ein melancholisches Metonym von 9/11 angesehen. Nicht, dass die Musik nur in diesem Zusammenhang Sinn macht; Basinskis texturierte, geloopte Ausschnitte von Instrumentalpassagen wurden vor diesem Datum produziert und schaffen emotionale Atmosphären, die jeden Zuhörer je nach den Umständen, unter denen sie gehört werden, inspirieren oder entspannen können. Doch als Baskinski und einige Freunde des Komponisten mehrere Stunden des 11. September 2001 damit verbrachten, die Landschaft und das Land vor ihnen zu beobachten, wie sie sich verwandeln, wobei die Loops laut auf einer Stereoanlage abgespielt wurden, fand die Musik eine unerwartete Rolle. Am Abend beschloss Basinski zu drehen.
Basinski ist einer von mehreren wichtigen minimalistischen Komponisten, die Filme in Einzelaufnahmen produziert haben, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. So nimmt Jim O'Rourkes Mizu No Nai Umi (2013) einzelne Aufnahmen aus Filmen von Brian De Palma auf und unterzieht sie einer Bearbeitung mit mikrotonaler, elektronischer Musik.
Die langsame Veränderung innerhalb einer scheinbaren Stasis ist auch aus den Bild- und Tonelementen von Michael Snows Wellenlänge (1967) bekannt, wobei Snows musikalisches Werk in der Filmkritik nur selten erwähnt wird, nämlich das minimalistische Stück "Falling Starts", das auf der LP „Musics for Piano, Whistling, Microphone and Tape Recorder“ zu hören ist.
Quelle: Yusuf Sayed - denn besser hätte ich es auf keinen Fall ausdrücken können.
(Fotos: William Basinski)